Türchen Neun - Kara

Nun müsste es eigentlich soweit sein. Kara starrte angestrengt auf die Gittertür. Doch, er war sich sicher. Bald würden die Pflegerinnen das Futter nachfüllen. Sein getigerter Schwanz mit der schneeweißen Spitze zuckte nervös hin und her. Hatten die Zweibeiner ihn vergessen?

Kara versuchte, die Erinnerungen zu unterdrücken, die auf ihn lauerten: Erinnerungen an Tage, an denen der Hunger seine Klauen in Karas Katzenmagen geschlagen hatte. Sein Leben auf der Straße hatte nur aus diesen zwei Gefühlen bestanden: Hunger und Furcht. Allein der Gedanke daran sorgte dafür, dass sein Fell sich sträubte und sein Magen knurrte.

 

Das Knurren war so laut, dass Kara das zarte Surren, das die Luft hinter ihm erfüllte, gar nicht wahrnahm. Auch das feuerrote Funkeln, aus dem plötzlich zwei winzige Gestalten ploppten, sah er nicht. Zu einnehmend waren die düsteren Gedanken hinter seinem besorgten Blick.

„So eine entzückende weiße Schwanzspitze!“, piepste es hinter ihm. 

Mit einem Fauchen katapultierte Kara sich in die Luft – sein Pelz puffte auf wie ein Watteball. Kaum dass der schockierte Kater wieder Boden unter den Füßen spürte, wetzte er los, ab hinter einen großen Korb. Als er dort nach einigen Sekunden misstrauisch hervorlugte, erblickte er zwei schwer betreten dreinblickende Weihnachtselfen. 

 

Lyra war tiefrot angelaufen und Anela stand die Scham darüber, den Kater so erschreckt zu haben, ins Gesicht geschrieben, als sie wisperte: „Bitte entschuldige! Ich wollte dich nicht erschrecken, wirklich nicht. Du hast nur so niedlich ausgesehen und ich …“ Die kleine Elfe blickte zu Boden. 

 

Die beiden Gestalten sahen so bekümmert aus, dass nun Kara ein schlechtes Gewissen bekam. „Schon gut“, versicherte er hastig, „Ich bin ja selbst schuld, ich war so in Gedanken …“ Er strich sich eilig das Fell glatt und tapste auf Lyra und Anela zu. „Ihr seid die Weihnachtselfen, die Anas Katzen besuchen, oder?“, fragte er und schnurrte ein bisschen, um nicht nur sich, sondern auch die beiden zu beruhigen. Sie nickten sichtlich erleichtert, dass sie Kara nicht nachhaltig verschreckt hatten. Dessen Miene hellte sich auf. „Und ihr habt unter den vielen Katzen ausgerechnet mich ausgewählt?“

 

Wieder nickte Anela und Lyra antwortete: „Aber natürlich! Wir haben von den anderen Katzen gehört, dass du manchmal so besorgt wirkst. Da wollten wir nach dir sehen und fragen, was dich so bekümmert.“ Kara putzte sich unbehaglich ein Pfötchen. 

„Ach wisst ihr…“, fing er an, „das wirkt vielleicht undankbar. Aber manchmal habe ich Angst, dass alles hier nur ein Schwindel ist. Dass ich aufwache und die ganzen freundlichen Katzen, die Finca und das Futter sind verschwunden. Dann muss ich daran denken, wie mein Leben früher war.“ Karas Maunzen war so leise geworden, dass Lyra und Anela sich vorbeugen mussten, um ihn zu verstehen.

„Und diese Erinnerungen machen mir Angst“, fuhr der Kater fort. „Die Zeit, in der ich in der Perrera auf einen Platz hier gewartet habe, war noch luxuriös gegen das, was davor war. Immer, wenn ich daran denke, wie mein Bäuchlein sich damals zusammengeknotet hat vor Hunger, muss ich zum Napf rennen und schauen, ob es wirklich noch etwas zu essen gibt. Die anderen Katzen lachen schon über mein ‚Wohlstandsbäuchlein‘. Aber ich kann einfach nicht anders. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich hier wirklich hingehöre …“

 

„Das tust du ja auch nicht“, sagte Anela. Kara und auch Lyra blickten sie verdutzt an. Anela hob beschwichtigend die kleinen Hände. „Ich meine, du gehörst in ein richtiges Zuhause, Kara.“ Sie streichelte beruhigend über die schneeweiße Nase des Katers, der darauf wieder leise zu schnurren begann. „Mit einer Familie, die dich lieb hat und dir zeigt, dass du jetzt endlich ankommen und die düsteren Erinnerungen loslassen kannst.“ 

Karas Schnurren stockte. „Aber wie soll ich denn eine Familie finden?“, fragte er kläglich. „Ich weiß doch, dass die getigerten Katzen seltener Anfragen bekommen. Und dazu …“ Beschämt blickte er auf sein weißes Bäuchlein. Lyra gluckste und streichelte es sanft. „Das ist nicht so schlimm, wie du denkst“, versprach sie. „Mehr Streichelfläche!“, fügte Anela verschmitzt hinzu.

Kara zweifelte noch. „Aber falls es da draußen so nette Menschen geben sollte, die einen schüchternen Tiger wie mich adoptieren würden, wie sollen die denn von mir wissen? Ich meine, ihr versteht die Katzensprache. Ihr kennt meine Angst. Die Menschen glauben vielleicht, ich mag sie einfach nicht und geben mich auf, bevor ich eine Chance bekomme.“

 

Lyra und Anela lächelten sanft. „Das lass mal unsere Sorge sein, lieber Kara. Wir werden versuchen, so vielen Menschen wie möglich deine Geschichte zu erzählen. Weihnachten ist nicht nur die Zeit der Wunder, sondern auch die der Hoffnung. Hör nicht auf zu hoffen, schöner Kater. Um den Rest kümmern wir uns.“ 

Kara schloss die Augen und versuchte in seiner üblichen, konzentrierten Art zu hoffen. 

Da war er: Ein kleiner Funken, den er von nun an hegen und pflegen würde. Er leuchtete hell und drängte die düsteren Erinnerungen zurück. Nur ein bisschen, aber das reichte vorerst. Als der Kater seine Augen wieder öffnete, waren Anela und Lyra verschwunden. Nur ihre Wärme blieb zurück.

 

Mit einem Mal zuckten Karas Öhrchen. War das Futter, das in eine Schüssel geschüttet wurde? Er wollte schon lossprinten, als er sich besann. Eigentlich … war er satt und ihm war warm. Er vertraute darauf, dass noch genug Futter übrig sein würde, wenn er jetzt ein kleines Nickerchen machte. Kara stapfte zu dem Körbchen, hinter dem er sich eben noch versteckt hatte und rollte sich darin zusammen. Hoffnungsvoll schloss er wieder die Augen.


Karas Weihnachtswunsch

Ich war mir unschlüssig ob ich lieber ein warmes Bettchen auf den Wunschzettel schreiben soll, oder Futter. Gestern hat sich ja Alex schon Bettchen gewünscht, der ist lieb und teilt mit uns. Deshalb wünsche ich mir Futter, damit wir alle nie wieder hungern müssen.

2,90 €

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